Die Klarissen am Dom schreiben keine Klausuren – sie leben darin. Klausur kommt von clausura„Verschluss“. Es ist eine Art der christlichen Nachfolge Jesu: in der Stille Gott suchen. Ein solches Kloster ist nicht offen für alle, sondern ausschließlich für die Schwestern reserviert. Ein Teil des Klosters ist die Klausur. Hier ist der Zutritt streng verboten. Schwester Ancilla Röttger lebt seit mehreren Jahrzehnten im Kloster am Dom.
Wir leben ja in einer Zeit von gefühlten Wahrheiten: Gefühlt gibt es wenige Orte, die so weit weg von der Wirklichkeit sind wie ein Kloster. Aber plötzlich sind Sie Expertin: für Quarantäne, fürs gemeinsame Leben in der Enge, für Schweigen und Stille. Wie lange haben Sie maximal am Stück geschwiegen?
Maximal am Stück geschwiegen habe ich vermutlich mal 24 Stunden, da ich zumindest die liturgischen Antworten im Gottesdienst gesprochen habe.
Wie bleiben Sie auf dem Laufenden? Haben Sie ein Smartphone?
Früher, d.h. vor Corona, blieb ich im Grunde durch die vielen Gespräche in unserem Sprechzimmer auf dem Laufenden. Jetzt lese ich Zeitung.
Wenn man so nahe aufeinander hockt, gehen einem die anderen Menschen schnell „auf den Geist“? Sie wohnen Tür an Tür, über Jahrzehnte mit denselben Mitschwestern. Wie machen Sie das?
Gute Frage! Manchmal gehen mir meine Mitschwestern (und ich meinen Mitschwestern) immer noch auf den Geist. Aber in den Jahrzehnten, die ich jetzt schon mit immer den gleichen Menschen zusammen lebe, habe ich gelernt, dass es darum geht, mit den anderen zu leben, und nicht, sie auszuhalten. Das heißt, wann immer die Situation nervig wird, frage ich mich zuerst mal nach mir selbst. Dass mir das, was doch immer da ist, plötzlich auf die Nerven geht, hat ja offensichtlich mit mir zu tun und nicht nur mit den anderen. Es hilft mir sehr, mich in solchen Situationen darauf zu konzentrieren, die andere zu verstehen und mich etwas zurückzulassen. Irgendwann ist mir klar geworden: Ich kann von niemandem verlangen, mich zu lieben; aber niemand kann mich daran hindern, den anderen zu lieben – und das ist dann meine Entscheidung, nicht Gefühl.
Sie leben in Klausur, das heißt im Kloster auf kleinen Zimmern und dem Garten drumherum. Wann fahren Sie ans Meer? Wann fliegen Sie auf die Bahamas?
Tatsächlich dürfen wir einmal im Jahr eine Woche lang in einem Wohnwagen auf Ameland sein. Aber es bleiben dann immer noch viele Wochen in Klausur übrig. Auch das ist ein Lernprozess: Wann immer es mir eng wird, weiß ich, dass die äußere Enge auf meine innere trifft – und daran kann ich arbeiten. Außerdem (in Anlehnung an den kleinen Prinzen von St.-Exupéry): Eine einzelne Rose ist genauso schön wie ein Feld voller Rosen. Und wenn ich mich in unseren kleinen Garten setze und nach oben schaue, ist der Himmel grenzenlos weit…
Wir sind von Mauern umgeben: Wenn ich immer nur an der Mauer entlangrenne und den Ausgang suche, wird Klausur eng. Wenn ich mich aber einfach an die Mauer anlehne und in die Mitte schaue, ist alles offen und verdichtet. Das lässt sich auch übertragen…
Wann platzt Ihnen der Kragen (wann geht Ihnen die Haube hoch)?
Immer dann, wenn ich das Gefühl habe, es geht gegen die Gemeinschaft, gegen die Zusammengehörigkeit oder gegen das, was unsere geistliche Identität ausmacht.
Wann haben Sie zuletzt geschrien?
Meinen Sie vor Wut? – Ich bin oder war recht jähzornig und konnte meine Wut gut ins Wort bringen! Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, mit der Wut umzugehen. Das Schreien meint ja eigentlich nur, dass ich meine Wut auch ernst nehme und nicht unterdrücke. Das geht auch, wenn ich innerlich in sie hineingehe in aller Stille und versuche, sie auszuatmen.
Schweigen und still sein. Gibt es da einen Unterschied?
Spontan würde ich sagen: Stille ist der Zustand, der entsteht, wenn wir schweigen – und Schweigen ist der Verzicht auf jegliche Botschaft, ob laut oder nur innerlich, auch die nonverbalen Botschaften brechen das Schweigen. Bis vor kurzem war es klar getrennt: Stille erfuhr ich hier im Kloster, und „draußen“ vollzog sich das Leben in lebendiger Lautstärke. Jetzt ist auch da draußen um unser Kloster herum Stille, die ich als eine etwas tote Stille wahrnehme, und ich erfahre die Stille im Kloster als lebendig. Schweigen ist nicht verstummen, sondern auf Botschaften verzichten, weil ich Botschaften empfangen will, weil ich wahrnehmen will und vor allem, weil ich auf dem Grund aller Worte Gott hören will.
Menschen sind sich oft unsicher, wann man etwas ertragen musss und wann man auch mal meckern darf. Haben Sie eine Richtschnur?
Ich finde, meckern darf man erstmal immer einmal. Aber dann sollte man die Argumente der anderen hören und gucken, ob man es nicht doch gemeinsam hinkriegt. Wer allerdings am Meckern dranbleibt, signalisiert für mich eine Machtfrage: So wie ich es will, muss es sein – und das stört Gemeinschaft.
Mir ist die Szene im Johannesevangelium sehr wichtig, wo Jesus vor dem Hohenpriester steht und der Knecht ihm plötzlich eine Ohrfeige gibt. Jesus schlägt nicht zurück, aber er sagt zu dem Knecht: „Warum schlägst du mich? Wenn es unrecht ist, was ich getan habe, dann weise es nach. Wenn es aber nicht Unrecht ist, warum schlägst du mich dann?“ Und ich finde, das sollte die Grundhaltung des Christen sein: nicht zurückschlagen, aber dem anderen nie die Frage ersparen.
Wenn man plötzlich auf sich allein gestellt ist und nicht ständig von allem abgelenkt wird, kommen viele Gedanken, Erinnerungen, Freuden und Ängste in den Sinn. Wie geht Ihnen das?
Als ich so ein dreiviertel Jahr im Kloster war, ging mir in den langen stillen Gebetszeiten der Gesprächsstoff mit Gott aus, eben weil ich irgendwie nichts Neues mehr erlebte. Und als ich dann versuchte, aufzuhören, selber pausenlos innerlich zu reden, berührte mich die Stille, und mehr und mehr kann ich lassen, was da in mir immer noch aufsteigt. Ich kann es mit dem Namen Jesu einfach ausatmen – und da sein.
Und Gott? Spricht er auch?
Im Gespräch mit einer Schulklasse, die unser Kloster besuchte, hatte offensichtlich eine Schülerin uns ins Herz geschlossen und sagte am Ende richtig mitleidig: ein ganzes Leben lang immer nur Stille?! Und ich nahm in ihren Worten ein Bild war: als säßen wir den ganzen Tag ein Leben lang vor einem steinernen Gottesbild und halten aus. So ist es nicht: Ich glaube an einen Lebendigen Gott, und es ist auch seine Aufgabe, uns bei der Stange zu halten.
Wir Menschen fliehen sehr gern, vor uns und vor anderen. Wie können Sie entkommen? Wohin gehen Sie? Wie halten Sie sich selber den ganzen Tag aus?
Weil ich nicht den ganzen Tag mit mir beschäftigt bin! So viele Menschen bitten uns um unser Gebet und unsere innere Begleitung, die sind alle mit mir da, wenn ich vor Gott bin, und da will ich gar nicht entkommen. Die über vierzig Jahre, die ich jetzt hier lebe, haben mir schon gezeigt, dass ich mir selber nie entkommen kann. Und warum auch?
Sie leben seit vielen Jahren freiwillig in Quarantäne. Warum?
Weil es für mich das Leben verdichtet!
Sie sind eine Gottsucherin. Haben Sie ihn nach den vielen Jahren gefunden?
Ja! Er ist da! Vielleicht sollte ich besser sagen: Ich habe mich von Ihm finden lassen. Denn wir sind es ja, die oft nicht da sind, während Gott immer da ist.
Unter den „Gottsuchern“ sind Sie Expertin. Haben Sie einen Anfängertipp?
Ob ich Expertin bin, bezweifle ich. Spontan: Man könnte zum Beispiel damit anfangen, wenigstens einmal am Tag ein wenig zu schweigen, um bereit dafür zu werden zu hören. Und im Hören die Menschen, mit denen ich lebe, ernst zu nehmen.
Ihr ganzes Leben haben Sie in die Nachfolge Jesu investiert. Was sagen Sie Menschen, die gut ohne Gott auskommen?
Dass Gott auch für sie da ist. Vielleicht haben sie andere Namen und andere Bilder für ihn – aber es gibt nur einen Gott und Er ist das Leben, also auch für die, die ohne Gott auskommen.
Beten Sie auch für uns?
Natürlich!